Die Exodus-Erzählung gehört zu den wertvollsten Glaubensüberlieferungen der Menschheit überhaupt: Anstatt Sklaverei als das Normale anzusehen, wie es über Jahrtausende getan wurde – und auch heute in neuen Formen wieder geschieht –, wird im Exodusbuch von der grossen Befreiung aus der Sklaverei erzählt, ja der Glaube an einen Gott bezeugt, der aus aller Sklaverei befreit und ein ethisch verantwortbares Leben für alle ermöglicht und verlangt. Damit wurde das Exodusbuch zur Inspirationsquelle für die gleiche Würde aller Menschen und zu einer der wesentlichen Grundlagen für die Menschenrechte. Eine sinndeutende Zusammenfassung des Exodusbuchs kann dies erhellen – ebenso wie die Exodus-Aufführung des Theaterensembles Johannes.
Ein programmatischer Text aus der diesjährigen Theaterzeitung.
Sinn- und Identitätsstiftung
Das Exodusbuch ist kein historischer Bericht. Es ist vielmehr eine Erzählung, welche für das nach und nach entstandene Volk der Israelit*innen einen gemeinsamen Ursprung in der Befreiung aus der Sklaverei sieht und damit eine gemeinsame Identität schafft. Wahrscheinlich hatte eine kleine Gruppe von Hebräer*innen eine Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten historisch einmal erlebt. Diese Erfahrung wurde über viele Generationen weitererzählt, diskutiert, aufgeschrieben, erneut reflektiert und ergänzt. Das Exodusbuch geht auf erzählerische Weise tiefschürfenden Fragen nach, wie beispielsweise – etwas modern formuliert: An was für einen Gott wollen wir glauben? Welche Lebensregeln, Gebote, Gesetze dienen unserer Gesellschaft und können wir als göttlich, im Sinne von lebensdienlich für alle, bejahen? Wo ist unsere Heimat, unsere Zukunft, unser Ziel?
Ausbeutung
Die Exoduserzählung knüpft am Genesisbuch an, wonach die Israelit*innen aufgrund einer Hungersnot als eine Art Wirtschaftsflüchtlinge nach Ägypten kommen (Genesis 42ff). Nachdem sie zunächst als Arbeitskräfte gefragt sind, wird im Exodusbuch von einem neuen Pharao erzählt, der die Fremdenangst schürt und die Israelit*innen versklavt – mit grausamer Unterdrückung bis hin zum Befehl, ihre neugeborenen Söhne in den Nil zu werfen und so zu ermorden. Dramatisch wird hier in wenigen Sätzen zugespitzt formuliert, wozu Herrschaftsinteressen und Fremdenfeindlichkeit führen können.
Die Retterinnen
Erstaunlicherweise beginnt die Befreiung in der Exoduserzählung nicht mit einer Tat des grossen Mose, sondern mit dem tatkräftigen Handeln mutiger Frauen: Zuerst leisten die beiden Hebammen Schifra und Pua zivilen Ungehorsam, indem sie sich dem Tötungs-Befehl des Pharaos widersetzen. Statt die neugeborenen Knaben der Hebräer*innen zu töten, schützen sie deren Leben. Widerstand gegen alles Lebensfeindliche wird hier als «Gottesfurcht» bezeichnet.
Dann sieht die Mutter des Mose, dass ihr Baby genauso «gut» ist, wie in der Schöpfungserzählung alles Erschaffene von Gott als «gut» bezeichnet wird. Um ihr Baby zu retten, setzt es die Mutter in ein «Binsenkästchen» auf den Nil – wörtlich in eine «Arche». So wird das namenlose Sklavenbaby auf gleiche Weise gerettet wie alle Arten der Lebewesen in der Noaherzählung (Genesis 6–9). Die Pharaonen-Tochter rebelliert mithilfe ihrer Dienerinnen gegen ihren Vater und tut das genaue Gegenteil von dem, was er befohlen hat: Statt das hebräische Baby in den Nil zu werfen, zieht sie es aus dem Nil heraus – weil sie Mitleid hat. Die Schwester des Mose schliesslich hat alles beobachtet und vermittelt bei der Pharaonen-Tochter, dass Mose die ersten Jahre bei seiner hebräischen leiblichen Mutter sein kann, bevor er an den Pharaonenhof kommt und dort aufwächst. Alle diese Frauen tun das Richtige, Lebensfördernde, Gottgewollte, obwohl sie in der Erzählung keine Gottesoffenbarung haben und teilweise auch nicht der jüdischen Religion angehören. Eine überaus offene, religionstolerante Sicht wird hier vertreten.
Ein Antiheld
Im direkten Gegensatz zu diesen Frauen, die Leben retten, begeht Mose als erstes einen Totschlag oder sogar Mord: Als er sieht, wie ein Sklave von einem Aufseher erschlagen wird, bringt er diesen um. – Welch’ langer Weg wird hier für Mose auf erzählerischer Ebene angedeutet, bis er einmal Gottes Weisung: «Du sollst nicht töten!», übermitteln kann. Und als wie gnädig wird Gott beschrieben, wenn Gott ausgerechnet diesen Mose berufen wird. – Kurz nach seinem Totschlag, kann Mose nicht einmal einen einfachen Streit zwischen zwei Hebräern schlichten. Sein Totschlag wird bekannt. Mose muss vor dem Pharao fliehen. Er kommt nach Midian, wo er Aufnahme und in Zipporah seine Frau findet.
Ringen um Tod und Leben
Hier könnte die Erzählung zu Ende sein, denn viele antiken Heldenerzählungen enden mit einer gelungenen Flucht und der Gründung einer Familie. Doch Mose ist kein Held, eher schon ein Antiheld. Und genau dieser Mose wird aus einem «brennenden Dornbusch» heraus von Gott aufgefordert, zum Pharao zu gehen und die Hebräer*innen aus der Sklaverei zu befreien. Mose wehrt sich jedoch mit allen möglichen und unmöglichen Ausreden dagegen. Erst als ihm sein Bruder Aaron zur Seite gestellt wird, ist er bereit zu gehen.
Nun beginnt ein langer und zäher Weg des Verhandelns mit dem Pharao, mit dem eigenen Volk der Hebräer*innen – aber auch mit eigenen Fragen und Gotteszweifeln des Mose. Der Kampf zwischen dem Pharao und Mose bzw. Gott ist stilisiert als Kampf zwischen Versklavung und Freiheit, zwischen Tod und Leben. Keinesfalls darf die sogenannte Plagenerzählung wörtlich verstanden werden, so als ob Gott tatsächlich solche Plagen geschickt hätte. Die Plagenerzählung ist vielmehr eine Art Gleichnis, das zum Ausdruck bringt, wie sehr Tyrannen und Diktatoren an ihrer Macht hängen und alles tun, um diese zu behalten. Und wie viel es braucht, um für unterdrückte, ausgebeutete Menschen und Völker Freiheit von Unrechtssystemen zu erlangen. – Angesichts von heutiger Ausbeutung von Natur und Mensch in der globalisierten Wirtschaft ist man versucht zu sagen: «Nichts Neues unter der Sonne.»
Befreiung ist möglich
Wenn unterdrückte und ausgebeutete Menschen und Völker eine Befreiung erleben, dann ist es wie wenn sich ein Meer spalten würde, durch das sie trockenen Fusses in die Freiheit ziehen können, während die Despoten und Unterdrückungsmechanismen – die Kriegsmaschinerie («Ross und Wagen»), die ausbeuterischen Wirtschaftsinteressen etc. – vom Meer überflutet würden. Auch dies ist eine Metapher, ein Gleichnis. Dass es solche Befreiungen auch historisch gibt, darf als Wunder, als Wirken Gottes, angesehen werden. Denn normalerweise läuft es anders bei uns Menschen.
Suche nach Solidarität und Glauben
Die Erzählung fährt weiter mit den Gottesbegegnungen am Sinai, mit dem Bundesschluss und in den weiteren Büchern der Torah mit dem langen Aufenthalt in der Wüste. Auch diese Texte sind über Jahrhunderte entstanden. Sie lassen erkennen, wie ernsthaft und lange das werdende Volk Israel/Juda nach einer gerechten Gesellschaftsordnung, nach Solidarität, nach Glauben und Gott gerungen hat.
Im Vergleich zu ähnlichen Texten aus dem Alten Orient weist die Torah viele Besonderheiten auf: Aussergewöhnlich ist, dass die Gesetze in der Torah nicht von einem König erlassen werden. Im ganzen Alten Orient galt der König als «Sohn Gottes» (Stellvertreter Gottes). Der König war der alleinige Gesetzgeber und übermittelte die «gottgegebenen» Gesetze, er war zudem oberster Priester, Richter und Heerführer. Ganz anders in der Torah: Hier wird auf einen König verzichtet. Es soll kein Mensch über andere Menschen herrschen. Das Volk erhält die Gesetze von Gott. Teils wird so formuliert, dass Mose – der alles andere als ein König ist – die Gesetze vermittelt, teils so, dass das Volk die Stimme Gottes selbst vernimmt und ihnen zustimmt. Dies ist eine für die damalige Zeit äusserst herrschaftskritische Sichtweise. Man kann in ihr sogar eine Wurzel für Demokratie sehen: Gesetze sind nicht an sich sakrosankt, sie sind vielmehr auf die Zustimmung des Volkes angewiesen.
Eine zweite Besonderheit der Torah ist, dass schon die ältesten Gesetze im sogenannten Bundesbuch (Exodus 21–23) Partei nehmen für die sozial Benachteiligten. Geschützt werden in erster Linie Fremde, Sklav*innen sowie Arme, Witwen und Waisen. Begründet wird dieser besondere Schutz von sozial Schwächeren immer wieder mit der Erinnerung daran, dass die Israelit*innen selbst einmal Sklav*innen und Fremde in Ägypten waren. Schon in der Torah führt dies zur Aufforderung der Nächstenliebe: Die Liebe zu Gott (Deuteronomium 6,4) muss sich in der Liebe zum Nächsten / Mitmenschen (Levitikus 19,18) und zum Fremden zeigen (Deuteronomium 10,19).
Bewahrung der Freiheit
Richtig verstanden, wollen die Gebote der Torah der Bewahrung der Freiheit dienen. Dies zeigt sich auch bei den Zehn Geboten/Worten. Während christlicherseits zumeist das Gebot der Alleinverehrung als erstes Gebot gezählt wird («Du sollst keine anderen Götter haben neben mir»), kennt die jüdische Tradition die Sichtweise, dass die Präambel («Einleitung») das erste und wichtigste Gebot ist: «Ich bin Gott, dein Gott, der ich dich herausgeführt habe aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus» (Exodus 20,2 // Deuteronomium 5,6).
Damit wird das Vertrauen in das Befreiungshandeln Gottes an die erste Stelle gestellt, was für alle folgenden Weisungen grundlegend ist. So verstanden will beispielsweise das Alleinverehrungsgebot sagen, du sollst keine Götter – der Götze Markt, der Götze Macht, der Götze Erfolg um jeden Preis usw. – verehren, die dich unfrei macht. Gott soll dir nur sein, wer dich wahrhaftig frei macht.
Jüdischerseits wurde dieser Sinn und Geist der Gebote der Torah schon in der Mischnah (ca. 2. Jh. n. Chr.) formuliert, indem das hebräische Wort «gegraben» anders vokalisiert wurde, so dass es die Bedeutung «Freiheit» bekommt:
Die Tafeln waren ein Werk Gottes, und die Schrift – eine Schrift Gottes war sie, gegraben (hebr. charut) auf die Tafeln (Ex 32,16). Lies nicht charut (gegraben), sondern cherut (Freiheit), denn du findest keinen wahrhaft Freien als den, der sich mit dem Erlernen der Torah befasst.
Mischnah, Abot